Zitate aus "Trostschrift an Helvia"
Die Natur hat dafür gesorgt, dass es, um glücklich zu leben, keines großen Aufwandes bedarf; jeder kann sich selbst glücklich machen. Zufällige äußere Umstände sind von geringer Bedeutung und haben keinen großen Einfluss: einen Weisen machen wedere günstige Umstände übermütig, noch drücken ihn ungünstige nieder. er hat nämlich immer stets darauf geachtet, den größten Wert auf sein eigenes Selbst zu legen, alle Freuden aus sich selbst zu schöpfen.
Zwei der herrlichsten Dinge folgen uns überall hin: die allgemeine Natur und die uns eigene Tugend. Glaub mir, dies alles hat der Weltenschöpfer so eingerichtet, gleichgültig ob das nun ein allmächtiger Gott ist oder eine körperlose Vernunft, die gewaltige Werke schafft, oder ein göttlicher Hauch, der alles vom Größten bis zum Kleinsten, in gleichem Maße durchströmt, oder das Schicksal mit seiner unzerreißbaren Kette von Ursache und Folge. Es ist eben, meine ich, so eingerichtet, dass nur das Allergeringfügigste äußerer Willkür unterliegt. Die höchsten Güter der Menschheit sind menschlicher Willkür entzogen, können uns weder verliehen, noch entrissen werden. Unsere Welt, diese größte und schönste Schöpfung der Natur, und der diese Welt betrachtet und bewundert, ihr herrlichster Teil, der Geist: beides gehört für immer zu uns und wird so lange Bestand haben wie wir selbst.
Finden in einer elenden Hütte nicht auch die Tugenden ein Zuhause? Erblickt man nämlich Gerechtigkeit in ihr, Selbstbeherrschung, Klugheit, Frömmigkeit, vernünftige Verteilung aller Pflichten, Wissen um Menschliches und Göttliches, wird sie jeden Tempel an Schönheit übertreffen.
Wie bedauernswert sind doch alle, deren Gaumen nur noch auf die erlesensten Gerichte anspricht; erlesen aber nicht durch Wohlgeschmack oder besonderen Gaumenkitzel, sondern nur weil sie selten oder schwer zu beschaffen sind. Da es aber im übrigen jedem freisteht, zur Vernunft zurückzukehren, warum dann soviel Aufwand im Dienste des Magens, soviel Handelsgeschäfte, solcher Raubbau an den Wäldern, solches Durchsuchen der Meerestiefen? Überallhin hat die Natur Nahrungsmittel verteilt; doch daran gehen sie wie Blinde vorbei, durchstreifen lieber alle Regionen, überqueren die Meere und reizen ihren Hunger, den sie leicht stillen könnten, gewaltig an...